[...]
Bevor noch die Wahrheit die Stiefel anzieht, hat die Lüge bereits die halbe Welt durchquert - ein längeres Beisammensein mit Vogelsang bewies unleugbar die Richtigkeit dieses Sprichwortes. Alle drei logen ununterbrochen, ständig, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, Tag und Nacht, unter der Woche und Sonntags. Sie waren geradezu notorische Lügner, Leute, für die der Begriff Wahrheit überhaupt nicht existierte. Zweifellos war dies die Folge ihres jahrelangen Daseins als Agenten - also des So-tun-als-ob, der Lügen und Vorwände.
Infolgedessen hatte man keine Sicherheit, nicht einmal was ihre Person, ihren Lebenslauf und ihre Nationalität betraf. Bisclavret zum Beispiel gab sich als Franzose aus, als französischer Ritter, er stellte sich gern als gallischer Krieger vor, als
miles gallicus [*]. Die beiden anderen änderten diesen Ausdruck gern ab in
morbus gallicus [**], was Bisclavret freilich nicht das Geringste ausmachte, es schien, als sei er daran gewöhnt. Er habe einst, behauptete er, einer der Banden der berühmten Écorcheurs angehört, jener grausamen Räuber, die ihre Opfer nicht nur ausraubten, sondern ihnen bei lebendigem Leib die Haut abzogen. Dieser Angabe widersprach allerdings ein wenig sein Akzent, der ihn eher in der Gegend von Krakau als in Paris ansiedelte. Aber auch dieser Akzent konnte vorgetäuscht sein.
Der kadaverhafte Drosselbart machte erst gar kein Geheimnis daraus, dass er einen angenommenen Namen trug.
Verum nomen ignotum est [***], pflegte er zu sagen. Auf seine Nationalität hin angesprochen, erklärte er, ziemlich allgemein, er sei
de gente Alemanna [****]. Das konnte wahr sein, wenn es denn keine Lüge war.
Rehors gab, was seine Herkunft anbelangte, weder ein Land noch eine Gegend an, er sprach nicht davon. Sprach er aber von anderen Dingen, bildeten sein Akzent und seine Wortwahl ein derart unglaubliches, irreführendes und unwahrscheinliches Durcheinander, dass man schon nach den ersten Sätzen nicht mehr wusste, was man denken sollte. Und darum ging es Rehors vermutlich auch.
Alle drei sendeten aber ganz bestimmte, charakteristische Signale - Reynevan hatte lediglich zu wenig Erfahrung, um sie zu erkennen und zu entschlüsseln. Alle drei Mitglieder von Vogelsang litten an chronischer Bindehautentzündung, rieben sich oft unwillkürlich das Handgelenk, und wenn sie aßen, schirmten sie mit dem Unterarm Teller oder Schüssel ab. Als Scharley sie sich später ansah, hatte er diese Signale schnell gedeutet. Drosselbart, Rehors und Bisclavret hatten den größten Teil ihres Lebens in Gefängnissen verbracht. In Kerkern, in Ketten.
[*]
miles gallicus - französischer Ritter
[**]
morbus gallicus - französische Krankheit, Franzosenkrankheit [Syphilis]
[***]
verum nomen ignotum est - der wahre Name ist unbekannt
[****]
de gente Alemanna - aus dem Volk der Alemannen
[…]
Bisclavret rieb sich die Hände, aber seine Freude dauerte nicht lange. Sie kamen just in dem Moment zum Marktplatz, als Herr Puta von Czastolovice zu den dort versammelten Bürgern sprach. Bei ihm war Prior Vogtsdorf.
“
Necessitas in loco, spes in virtute, salus in victoria! [*]”, schrie Herr Puta. “Ich schwöre hier vor euch bei der heiligen Jungfrau Maria von Glatz und beim heiligen Kreuz, ich werde keinen Schritt weichen, die Stadt entweder verteidigen oder in ihren Trümmern sterben!”
“Keiner von euch, auch nicht der Geringste, ist ohne Schutz”, setzte Prior Vogtsdorf ohne Emphase hinzu. “Keiner. Das schwöre ich beim heiligen Kreuz.”
“Wir haben vielleicht ein Pech!”, stellte Bisclavret fest. “Schlimmer hätte es gar nicht kommen können. Dieser verdammte Puta
sans peur et sans reproche [**] im Verein mit dem beherztesten, tapfersten und ehrlichsten Pfaffen. So ein Pech aber auch!”
“So ein Pech!”, stimmte ihm Scharley zu. “Wir haben offenbar kein Glück, verdammt noch mal. Lasst uns also alles noch einmal zusammenfassen. Eines der Tore zu öffnen, kommt nicht in Frage. Unter den Verteidigern Panik zu schüren, wird schwierig. Was bleibt uns noch?”
“Ein Mord.” Der Franzose verzog das Gesicht. “Ein Anschlag. Ein Terrorakt. Man könnte versuchen, Puta und den Prior zu eliminieren. Verlassen wir uns dabei auf Reynevan, der gestern Abend in Eisersdorf sein Talent dazu bewiesen hat…”
“Es reicht!”, unterbrach ihn Reynevan. “Ich will kein Wort mehr davon hören. Ich warte auf einen ernsthaften Vorschlag. Was bleibt uns noch?”
“Feuer.” Bisclavret zuckte mit den Achseln. “Feuer legen oder, besser noch, mehrere Brände. An mehreren Punkten gleichzeitig. Aber das kommt auch nicht in Frage. Ich mache das nicht.”
“Und warum nicht?”
“Reynevan”, die Stimme des Franzosen war kalt und sein Blick eisig, “du kannst von mir aus den Jünger der Lehre spielen, wenn du das möchtest. Oder wenn du meinst, dass das gut zu dir passt. Du kannst, von mir aus gern, für Wyclif, Hus, Gott und das Sakrament
sub utraque specie [***], das Wohl des Volkes und Gerechtigkeit für alle kämpfen. Aber ich bin ein Profi. Ich will nur meine Arbeit machen und mit dem Leben davonkommen. Hast du das denn nicht kapiert? Störbrände muss man, sollen sie wirksam sein, genau in dem Moment legen, wenn der Sturm auf die Stadt beginnt. Verstehst du?”
“Ich verstehe es”, antwortete Scharley. “Genau dann, wenn der Sturmangriff beginnt. Das heißt, es bleibt keine Zeit mehr zur Flucht. Diejenigen, die mit unserer Hilfe die Stadt erobern, werden uns im Siegestaumel die Kehle durchschneiden.”
“Vielleicht könnte man ein Signal vereinbaren…”
“Wie Rahab in Jericho ein rotes Seil aus dem Fenster hängen? Du hast entschieden zu viele Predigten gehört, Junge. Verwechsle hier bitte nicht Literatur und Realität. Ich halte es mit Bisclavret und sage: Ich lasse mich nicht auf so ein Glücksspiel ein. Ich möchte euch daran erinnern, dass auch ich ein Profi bin. Sogar in mehreren Sparten. Jede davon ist mir lieb. Zumindest so lieb, wie mir das Leben wert ist.”
“Es gäbe schon eine Möglichkeit, die Stadt anzuzünden, ohne das wertvolle Fell der Herren Professionellen zu gerben”, sagte Reynevan nach langem Nachdenken.
“Ha! Hast du eine gefunden?”
“Habe ich. Denn auch ich bin ein Profi, meine Herren.”
[*]
[Hostem a tergo palus, Romanos fluten aut montes claudebant: utrisque] necessitas in loco, spes in virtute, salus in victoria! - [den Feind hielt von hinten der Sumpf, die Römer hielten der Fluss oder Berge umschlassen; für beide beruhte] der Zwang auf der Örtlichkeit, die Hoffnung auf der Tüchtigkeit, die Rettung im Sieg!
[**]
[chevalier] sans peur et sans reproche - [Ritter] ohne Furcht und Tadel
[***]
sub utraque specie - [Kommunion] in beiderlei Gestalt
[...]
Aus dem letzten Buch, das ich gelesen habe. Ich bin dazu über gegangen, Bücher der Reihe nach zu lesen und nicht mehr mehrere parallel. Spart Nerven :)
Sapkowski hat's echt drauf. Er schreibt Bücher, die Menschen zeigen und nicht irgendwelche idealisierten Helden. Und das ist mMn besonders in Romanen, die wie
Gottesstreiter im Mittelalter spielen sehr wichtig. Schließlich kennen wir das Mittelalter nicht, wir bekommen nur ein idealisiertes, romantisiertes Bild davon mit. Natürlich weiß selbst Sapkowski nicht, wie es damals wirklich war, aber seine Personen
leben dennoch.
Und der Humor kommt ebenfalls nicht zu kurz. Deswegen auch die beiden zitierten Stellen. Ich finde sie einfach herrlich. Manch einer mag vielleicht fragen, was daran so lustig ist.. Ich weiß es nicht genau zu benennen, aber sie lassen mich schmunzeln und sind mir noch nach dem Lesen in Erinnerung geblieben. Es gibt eine ganze Menge solcher Stellen in diesem Roman, leider kann ich mir nicht alle merken, bin ich doch meist eher damit beschäftigt, mir alles bildlich vorzustellen und - ja, in gewisser Weise schon - alles - oder fast alles ;) - mit den Personen, die mir gefallen, mitzuerleben.
Lesen ist etwas Wunderbares :)
Und das werde ich nun auch wieder tun, einen schönen Abend noch :)
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Reading at the moment: _Stephen Kenson _ Born To Run [Shadowrun-Roman]_